Lehrkräfteausbildung zeitgemäß gestalten!

Jan Marenbach
5 min readDec 7, 2021

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im Berliner “Tagesspiegel” beklagt Jan Martin Wiarda am 29.11.2021 unter dem Titel “Lehrerbildung jetzt digitalisieren!”, dass die von der KMK vor fünf Jahren beschlossene Strategie “Bildung in der digitalen Welt” ebenso wie der zweieinhalb Jahre alte Digitalpakt bislang zu wenig Resonanz in der Ausbildung von Lehrkräften gefunden hätten. Dies belegt er mit Zahlen aus dem Monitor Lehrerbildung der Bertelsmann-Stiftung und fordert entsprechend ein neues “Digitalstrategie-Update”.

Dass die Ausbildung von Lehrkräften in Deutschland in drei Phasen organisiert ist, berücksichtigt Wiarda in seinen Ausführungen zur Studie nicht, wenn das Problem lediglich in den Curricula der Universitäten verortet wird. Und auch, wenn die Forderung nach zunehmender und verbindlicher Implementierung von “Digitalkompetenzen” im Lehramtsstudium berechtigt ist, greift sie doch zu kurz, um die aktuelle Situation zu veranschaulichen.

So hat jede Hochschule natürlich die Möglichkeit, entsprechenden Content curricular zu verankern und als Input im Lehramtsstudium verbindlich zu machen. Inwieweit die Universitäten aber die Freiheit der Lehre nutzen, um sich hier auf den Weg machen, liegt aber in weiten Teilen in ihrer eigenen Verantwortung. Das gilt umso mehr für Arbeitsformen in der Lehre, die den Bedingungen der Digitalität gerecht werden.

In der zweiten und dritten Phase gibt es sicher mehr Möglichkeiten zur Steuerung durch KMK und Bildungsministerien: Mediendidaktische, medienpädagogische und anwendungsbezogene Angebote lassen sich sowohl in den Vorbereitungsdienst als auch in Fortbildung integrieren. Ihre aktuell noch eingeschränkte Wirksamkeit hat systemische Ursachen: Aufgrund der heterogenen technischen Voraussetzungen an Schulen (WLAN, LMS, Dienstrechner etc.) können sie nur Angebotscharakter haben. Bei einer Verkürzung des Vorbereitungsdienstes auf ein Jahr, Überlastung von Lehrkräften an Schulen und grundsätzlich zunehmende Belastungen von Lehrkräften durch die Pandemie schauen Lehramtskandidatinnen und -kandidaten sowie Lehrkräfte sehr genau auf die unmittelbare Relevanz von Angeboten für ihre konkrete aktuelle Praxis. Wenn dann in erster Linie anwendungsbezogene Formate eine “Digitalisierung” bestehender Konzepte von Lehren und Lernen vorantreiben, bleibt oft nur die Erfahrungen wie die, die Lehrkräfte bereits vor Jahrzehnten mit den Sprachlabors oder aktuell mit den interaktiven Tafeln gemacht haben und machen: Warum muss denn nun alles aufwändiger, störungsanfälliger und komplizierter durch eine Technik werden, ohne die das Arbeiten vorher doch auch funktioniert hat? Die Bedingungen der Pandemie mögen hier durch die Notwendigkeit von Videokonferenzen nur eine unzureichende Antwort geben, bestätigen in der Praxis aber noch zu oft das Vorurteil, dass “digitalisierte Bildung” eine unpersönliche, defizitäre und damit wenig erstrebenswerte Angelegenheit wäre.

Es kann daher nicht nur darum gehen, angehende oder praktizierende Lehrkräfte “Veranstaltungen zu digitalen Medien” belegen zu lassen, damit diese “verpflichtend Digitalkompetenzen vermittelt bekämen” (Wiarda).

Vielmehr müssen zeitgemäße Arbeitsformen direkt in die Praxis implementiert werden, welche die Möglichkeiten eines Arbeitens in der Digitalität nutzen. Und da sind alle drei Phasen gefordert:

  • arbeiten an der Sache,
  • kollaborativ arbeiten,
  • an Anliegen orientiert arbeiten,
  • Transparent und offen in einer Kultur des Teilens (sharing) arbeiten,
  • arbeiten auf Grundlage einer konstruktiven und wertschätzenden Fehlerkultur,
  • nicht auf Prüfungsergebnisse hinarbeiten.

Wer sich solche Prinzipien auf die Fahnen schreibt, spricht noch nicht von digitalen Kompetenzen. Wer aber zeitgemäße Möglichkeiten für die Umsetzung solcher Arbeitsprinzipien sucht und darüber hinaus das gemeinsame Arbeiten asynchron, also unabhängig von Raum und Zeit, umsetzen möchte, findet Lösungen in der Digitalität. Gleichzeitig bekommen datenschutz- und urheberrechtliche Fragen eine neue Relevanz. Und wenn hier z.B. mit den Open Educational Resources (OER) eine tragfähige Angebote schon lange zur Verfügung stehen und genutzt werden, so ist das deutsche Bildungssystem bei der Entwicklung einer zeitgemäßen Prüfungskultur noch ganz am Anfang.

Der Übergang vom Gutenbergzeitalter in das digitale Zeitalter wird sich nicht durch curricular verankerte Instruktionen umsetzen lassen, denn seine Implikationen und Folgen sind zu umfassend. Zuallererst geht es um Haltungen, die Grundlage jedes Lernens und Zusammenarbeitens sind.

Im Brandenburgischen Vorbereitungsdienst finden sich in der neuen OVP (2019) viele Voraussetzungen für eine zeitgemäße Lehrkräfteausbildung unter den Bedingungen der Digitalität: Das Ausbildungscoaching ermöglicht eine individualisierte und bedarfsorientierte Ausbildung, die sich als Initiierung lebenslangen Lernens für zukünftige Lehrkräfte versteht. Auch die Fachausbildungen sind von Vornoten befreit und können, orientiert an curricularen Richtschnüren, individualisierte und bedarfsorientierte Lernsettings anbieten. Diese Arbeitssetting basieren zunehmend auf digitalen, webbasierten Plattformen — z.B. Pinnwänden, Whiteboards, offenen Dokumenten — , die als pädagogische Doppeldecker kollaboratives Arbeiten am Ausbildungsgegenstand nicht nur ermöglichen, sondern auch exemplarisch erfahrbar machen. Gleichzeitig wird das Arbeiten in der Digitalität aber nicht nur erfahrbar gemacht, sondern auch im Kontext aktueller Entwicklungen der Mediendidaktik reflektiert: Die Tatsache, das Lehr- und Lernprozesse digitalisiert werden, sagt ja noch nichts aus über die Qualität dieser Prozesse im Sinne selbstbestimmten und nachhaltigen Lernens. Orientierung ist dabei durch alle drei Phasen der Ausbildung hindurch der europäische Kompetenzrahmen DigCompEdu.

Dass gerade im Vorbereitungsdienst auf diesem Gebiet hervorragend ausgebildete Lehrkräfte an den Schulen sichtbar als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wirksam sind, ist ein Erfolg der Bemühungen in den Studienseminaren, diese als Ausbildungsstätten für Schule unter den Bedingungen der Digitalität weiterzuentwickeln.

Dennoch lassen sich die von Wiarda genannten Untersuchungsergebnisse nicht wegdiskutieren. Gestützt werden sie durch Untersuchungen, die Deutschland bescheinigen, von einer Vorreiterrolle bei der Digitalisierung im Bildungsbereich weit entfernt zu sein. Dass Brandenburg in Deutschland laut Telekom-Studie einen schwachen Platz unter den letzten drei Bundesländern einnimmt, macht die Sache nicht besser. Inwieweit die KMK mit Beschlüssen und Finanzpaketen in der Lage ist, den erforderlichen tiefgreifenden Strukturwandel in großen Schritten voranzutreiben, bleibt nach wie vor offen — angepasste Curricula werden da auch weiterhin kein Game-Changer sein: Ein Zertifikat schafft noch keine Innovation. Und viele erfolgversprechende Entwicklungen werden eben nicht top-down initiiert, weil sich Haltungen nicht verordnen lassen. Insofern kommt es darauf an, Räume für die Bildungsinitiativen zu schaffen, die gerade während der Pandemie bekannter und vielfältiger geworden sind: Barcamps und OER-Camps, kontinuierlich stattfindende Tagungsformate wie die mobile schule, Initiativen für Mikrofortbildungen an Schulen und Studienseminaren, bundesweite Vernetzungen. Hier sollte auch ein Schwerpunkt von Unterstützung durch die Bildungspolitik liegen: Zeit für Fortbildung, Hard- und Software, Fortbildungsangebote — all das kostet Geld, das hier besser angelegt ist als in den Edu-Startups, die von der Pandemie profitieren möchten und deren scheinbare Bildungsversprechen sich oft nur als Stoffvermittlungsangebote entpuppen.

Für die Lehrkräftebildung und -ausbildung explizit würde eine zielgerichtete Unterstützung zunächst einmal bedeuten, dass sie als das wahrgenommen wird, was sie ist: Erwachsenenbildung im staatlichen Bildungssystem. Dazu gehört zunächst zu erkennen, was sie nicht ist:

  • Sie ist nicht Schule und viele für Schülerinnen und Schüler aus datenschutzrechtlichen Gründen geltende Restriktionen bei der Verwendung von Software sind im inhaltlichen Ausbildungsbetrieb nicht sinnvoll.
  • Sie ist keine Behörde, die “Telearbeit” anbietet, weswegen Dienstrechner für die inhaltliche Arbeit auch nicht auf ein Minimum ihrer Funktionen beschnitten werden dürfen.
  • Sie ist nicht Universität, weswegen die für eine bedarfsorientierte und individualisierte Ausbildung notwendigen Freiheiten entgegen bisheriger Praxis erst entwickelt werden muss.

Entwicklungen hin zu einer effektiveren und zeitgemäßen Lehrkräfteausbildung lassen sich beschleunigen, indem Mittel sinnvoll eingesetzt werden:

  • für potentes und offenes WLAN an allen Bildungseinrichtungen;
  • für moderne Endgeräte, deren Möglichkeiten auch nutzbar sind;
  • für digitale Arbeitsplattformen, auf denen kollaboratives Arbeiten auf dem neuesten Stand der Technik möglich ist;
  • für technischen Support, der Lösungen entsprechend der Bedarfe der Ausbildung findet (und dann gerne dazu passend juristischen Support).

Darüber hinaus müssen längst überfällige Anpassungen auf Verordnungsebene erfolgen. So fehlt es an einer Digitalisierung der Prüfungsverfahren, was gerade für die schriftlichen Unterrichtsplanungen erhebliche Konsequenzen hat.

Die Forderung von Wiarda “Lehrerbildung jetzt digitalisieren!” mag leider immer noch Aktualität haben, sinnvoller für die Praxis wäre aber das Vorhaben “Lehrkräfteausbildung zeitgemäß gestalten!”. In dem unmittelbaren Bedarf nach den Möglichkeiten, die vernetztes Arbeiten in der Digitalität für eine solche Gestaltung bietet, steckt letztlich mehr Potenzial als in der Empfehlung der Studie “Monitor Lehrerbildung”, “digitalisierungsbezogene Kompetenzen” als prüfungsrelevanten Gegenstand der 2. Staatsprüfung zu implementieren.

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Jan Marenbach
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Written by Jan Marenbach

In der Lehrkräfteausbildung als Ausbildungscoach, Fachausbilder Deutsch LA und Medienberater tätig. Hier formulierte Meinungen sind durchgängig privater Natur.

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