Twitterstreitereien
Text von Jan Marenbach, @jjjmare
Menschen finden einen Zeitungsartikel doof und schreiben das. Dies wiederum finden andere Menschen doof. Die inhaltliche Debatte dahinter ist trotzdem wichtig.
Die GEW hat in ihrer Mitglieder-Zeitschrift „Erziehung & Wissenschaft“ einen Text (S.32) veröffentlicht, der sich gegen die Zusammenarbeit von Schulen mit Konzernen wie Google oder Microsoft wendet. Der zentrale Vorwurf lautet, Schulen würden sich in rechtswidriger Weise als billige Werbeträger missbrauchen lassen. In dem Artikel wird unter anderem das Videoprojekt eines Kollegen als Beispiel für Lobbyismus an Schulen angeprangert.
Dieser Artikel hat im Twitterlehrerzimmer für so viel Unmut gesorgt, dass sich nun professionelle Journalisten nicht nur um den verantwortlichen Kollegen und dessen Zuarbeiter sorgen, sondern gleich komplett um das Ansehen der vierten Gewalt im Twitterlehrerzimmer. Darunter geht es offenbar nicht, aber so ein journalistisches Spezialthema wie „Bildung und Digitalität“ will ja auch gehegt und gepflegt werden. Da zu jenem rhetorischen Schutzraum auch die Zitation einzelner Kritiker (mich inklusive) gehört, verbrenne ich mir an diesem 2. Advent statt am Glühweinbecher die Finger mit dem Schreiben meiner ersten „Veröffentlichung“.
Den Artikel habe ich auf Twitter bezeichnet als:
- „einseitig“, weil der Text z.B. das Video ausschließlich als reine Werbemaßnahme von Google versteht;
- „reißerisch“, weil er unterstellt, in ihrer angeblichen Rechtswidrigkeit sei z.B. das Video Ergebnis von Mutlosigkeit seitens der verantwortlichen Schulbehörden;
- „respektlos“, weil er indirekt auf das Disziplinarverfahren als Lösung für den Umgang mit den namentlich genannten Kollegen verweist.
Ich bin der Ansicht, dass journalistische Texte all dies sein dürfen. Aber dann kann es eben auch sein, dass ich sie nicht gut finde. Und wenn sie ihren Content auf Kosten von Menschen aufhübschen, die ich besonders respektiere und mag, sind sie für mich zudem überaus ärgerlich — die vierte Gewalt möge mir verzeihen.
Die Erörterung der Frage, wie viel Einfluss an Schulen den großen Konzernen zugestanden werden darf, hat nichts mit meinem Ärger über den Artikel zu tun. Das angesprochene Video sehe ich differenziert und habe dies auch ausführlich mit dem Kollegen diskutiert. Mir missfällt der Werbe-Mehrwert, der für Google abfallen könnte, und die damit einhergehende Ästhetik des Clips. Mir gefällt die Professionalität, mit der hier in erster Linie SuS ein Video erarbeitet haben, das ihnen als Lernprodukt ihrer Schullaufbahn ein echtes Highlight sein dürfte. Überzeugt hat mich der Entstehungsprozess als Möglichkeit von Medienbildung, da mit den Schülerinnen und Schülern die Rolle von Google durchgehend hinterfragt wurde.
Sehr schnell komme ich in diesen Gesprächen an einen Punkt, an dem mir klar wird, dass der Ausgangspunkt für meine Haltung in den Grauzonen im Umgang mit IT-Produkten in der Bildung ein sehr persönlicher ist (und ja — es sind Grauzonen!):
Ich habe kein WhatsApp. Das erspart mir den Sozialstress, schließt mich gelegentlich aber aus. Und so dachte ich neulich EGAL und installierte WhatsApp. Als jene Facebook-eigene App Zugang zu all meinen Kontakten forderte, verzichtete ich. Ich habe ja auch noch Wire, Signal und Telegram — notfalls SMS und Mail. Die wollen alle nicht zwingend Zugriff auf meine Kontakte, um zu funktionieren.
Um mich in dieser konsequenten Verweigerung prima zu finden, muss ich diverse andere EGAL-Entscheidungen ignorieren. Dass ich mich irgendwann bei Facebook und Instagram angemeldet habe, rede ich mir schön (minimaler Einsatz persönlicher Daten, keine Fotos von Personen). Bei der Nutzung meines chinesischen Androiden aber habe ich — abgesehen von ein paar Alibi-Nutzereinstellungen — aufgegeben: Ich sende zwar keine freiwilligen Berichte für Optimierungszwecke, Google weiß aber sonst alles von mir. Und den Rest weiß Microsoft, da das Ubuntu auf meinem PC auch nur ein Feigenblatt für meine Windows-Abhängigkeit ist. Erwähnte ich, dass sich auf meinem Surface MS und Google prima ergänzen?
Ich frage mich übrigens, ob die Apple-User mit diesen Ausführungen überhaupt etwas anfangen können. Innerhalb ihrer Apple-Welt quält die wahrscheinlich niemals jenes Ideal, das ich schon lange und immer wieder über Bord werfe: informationelle Selbstbestimmung. Kann man als halbwegs medienaffiner Mensch aktuell überhaupt noch einigermaßen Überblick haben über Preisgabe und Verwendung eigener personenbezogener Daten?
EGAL — ich habe mich an dieses ganze Zeug gewöhnt: Android und Google Maps und Drive, Windows 10 und Office 365, Youtube und Spotify, Amazon, PayPal, ParkNow, whatever. Und die codenden Nerds unter meinen Freunden, die keinen CCC-Kongress auslassen und mir Sinn und Notwendigkeit von Open Source so oft plausibel gemacht haben, zocken schließlich auch auf Windows und haben ihr neuestes Smartphone dann doch nicht mehr gerootet. Sicher muss man das alles ohnehin differenzierter betrachten: Mit etwas Aufwand kann man überall doch ganz gut entscheiden und einstellen, was man über sich preisgeben möchte. Und mit zu viel moralischem Rigorismus bleibt eh nur der Weg zurück auf die Bäume. Oder?
Echte Relevanz erhalten solche inneren Widersprüche im Kontext meiner Arbeit als Seminarleiter in der Lehrerbildung: Was ist hier geboten, was verboten? Bin ich unter dem Strich nun Gegner oder Unterstützer jenes Videos? Wie weit reicht meine Begeisterung für die Google Education Suite tatsächlich? Wo sind die „sauberen“ und(!) tauglichen LMS? Sollte ich in meiner Arbeit konsequenter die Verwendung von Open Source Software vorleben und propagieren? Wie gehe ich mit den Begrenzungen um, die mein Arbeitsumfeld prägen, und was wünsche ich mir konkret? Welche Rolle spielt in meinem beruflichen Handeln die Tatsache, dass die Big Five das freie Internet beim User möglichst weitgehend durch ihre eigenen Ökosysteme ersetzen wollen und damit die Versprechen weltweiter Vernetzung zur Dystopie geraten? Wie kann ich im beruflichen Alltag digitale Möglichkeiten zeitgemäßer Bildung erkunden und nutzen, ohne dass da am Ende jemand mit Reichweite gleich den Scoop eines Dienstrechtsvergehens wittert?
Natürlich habe ich im Seminar Lösungen und Strategien gefunden, die nicht auf „EGAL“ basieren. Aber ich sehe die Widersprüche und mir sind die Grauzonen bewusst, in denen ich mich immer wieder bewege. Meine Hoffnung ist, dass sich die Möglichkeiten weiter verbessern, Schülerinnen und Schülern im „blauen Medium“ mehr Verantwortung für ihre Lernprozesse zu übertragen; dass wir über die Verbesserungen durch „Tools“ zu einer echten Transformation unseres Bildungssystems kommen, ohne es dabei gleich an US-amerikanische Konzerne verkaufen zu müssen.
Und ich hoffe, dass mögliche Irrwege in den Grauzonen der zeitgemäßen Bildung zu konstruktiven Debatten anstatt zu Disziplinarverfahren führen.