Die online Wochen — eine fürchterliche Angelegenheit?

Jan Marenbach
6 min readOct 23, 2023

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von Jan Marenbach

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Seit Ende der Pandemie haben wir im Studienseminar Potsdam pro Ausbildungssemester zwei Wochen online-Betrieb etabliert. Dieses Regelung ist durchaus umstritten — insbesondere, wenn überraschende Heizungsdefekte im Haus uns zusätzliche Ausbildungsveranstaltungen in Form von Videokonferenzen bescheren.

Tatsächlich gibt es gewichtige Gründe, das Konzept “online-Wochen” auf den Prüfstand zu stellen:

Die Gestaltung der Seminare ist und leidet in der Praxis zudem immer unter Technikproblemen:

  • Videokonferenzen sind im Vergleich zu Präsenzveranstaltungen insbesondere in Hinblick auf den persönlichen Kontakt defizitär, da die Begegnung nur über “Kacheln” mit gefilmten Abbildern von Menschen stattfindet, die sich nicht in die Augen (Kameras) schauen, sondern auf den Bildschirm blicken. Die Störanfälligkeit der Kommunikation über Mikrophone und Lautsprecher ist ein weiterer Aspekt. Zudem sind haptische Erfahrungen kaum möglich, handlungsorientierte Methoden lassen sich in vielen Fällen nicht oder nur in eingeschränker Form durchführen.
  • Die Veranstaltungen sind entsprechend determiniert vom “Flaschenhals” der technischen Voraussetzungen: von der Leistung der Internetzugänge sowie der Hardware der Teilnehmenden, von der Performance der BigBlueButton-Server und nicht zuletzt von den konkreten Funktionsweisen des Tools BigBlueButton (BBB) an sich. So führt z.B. die Konzeption der Breakout-Räume als in Größe, Anzahl und Zeit administrierte Gruppenräume zu einer notwendigerweise starken Steuerung des Veranstaltungsablaufs durch die Ausbildenden.

Intention und Ertrag verordneter online-Formate sind fragwürdig:

  • Ob durch die online-Wochen die Kompetenz von Ausbildenden und Lehramtskandidat*innen (LAK) im Umgang mit digitalen Medien tatsächlich gefördert oder erweitert wird, ist nicht gesichert. In dem Fall, dass Ausbildende lediglich die Routinen immer wieder anwenden, über die sie bereits verfügen, stellt sich die Frage nach der Angemessenheit des Ertrags wiederkehrender online-Wochen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass z.B. die oft improvisierte Praxis aus der Pandemie für die LAK nicht nur wenig vorbildlich ist, sondern darüber hinaus mediendidaktisch problematische Konzepte hybrider Lernszenarien etabliert.
  • Insbesondere bei Ausbildenden und LAK, die wenig mit digitalen Medien arbeiten, könnte sich die Vorstellung verfestigen, digitale Lernszenarien hätten immer etwas mit Videokonferenzen zu tun. Überspitzt formuliert hieße das, dass das Videokonferenztool BBB die Arbeit mit digitalen Medien kontaminiert im Sinne von “Ich lehne digitales Arbeiten ab, da ich Videokonferenzen mit BBB ganz fürchterlich finde”. Verstärkt werden kann dies durch potenzielle Widerstände, die sich aus der Tatsache ergeben, dass die online-Wochen “von oben” verordnet sind. Solche Effekte würden in Einzelfällen die Intentionen der online-Wochen in ihr Gegenteil verkehren.

Trotz dieser Einwände gibt es aber auch (gute) Gründe, an den online-Wochen festzuhalten.

Oft genannt werden in diesem Kontext Vorteile, die sich ganz allgemein einem gewissen Effizienzdenken zuordnen lassen: die Ortsunabhängigkeit der Teilnehmenden sowie Zeit- und Kostenersparnisse durch wegfallende Reisewege. Für manche*n ist es auch schlichtweg komfortabler, an Veranstaltungen teilzunehmen, ohne die eigene Wohnung zu verlassen.

Aus meiner Sicht hat dieses Effizienzdenken ein hohes Maß an Berechtigung, wenn es um Fortbildungsveranstaltungen geht, um Dienstberatungen mit hohem Informationscharakter oder um Treffen kleiner Arbeitsgruppen im konzeptionellen oder organisatorischen Bereich von Ausbildung. In Ausbildung selbst sollte solches Effizienzdenken erwachsenendidaktischen bzw. ausbildungspraktischen Erfordernissen untergeordnet bleiben — die Ausbildung ist kurz genug.

Was bleibt nun an guten Gründen?

Gleich vorweg: die gibt es aus meiner Sicht im Wesentlichen nur, wenn wir als Ausbildende sie aktiv schaffen. Und vor dem Hintergrund der für Ausbildende in Brandenburg festgelegten Kompetenzprofile einerseits und der Aussicht auf unsere Tätigkeit in einem zukünftigen Landesinstitut, die aller Voraussicht nach von einer zunehmenden Bedeutung hybrider Lernarrangements geprägt sein wird, spricht viel dafür, der Masse an Schwierigkeiten weniger Aufmerksamkeit zu schenken und stattdessen nach den Trüffeln der guten Gründe zu graben, nämlich:

  1. Die online-Wochen ermöglichen den Ausbildenden, mit den LAK lernförderliche hybride Lernszenarien zu entwickeln, auszuprobieren und zu reflektieren.
  2. Da digitale Medien immer eine verstärkende Funktion haben, kann die Umsetzung hybrider Lernszenarien helfen, eigene Ausbildungsroutinen aus neuer Perspektive zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.
  3. Solche Reflexionsprozesse können nicht nur ein vertieftes Verständnis für mediendidaktische Problemstellungen generieren, sie helfen auch, Sicherheit und Überblick und Urteilsvermögen im Umgang mit digitalen Medien zu gewinnen.

Es wäre ein sicher lohnendes Unterfangen, über die Sammlung und mediendidaktische Reflexion von Best-Practise-Beispielen aus dem Kollegium diese drei Überlegungen zu vertiefen. Gerne stelle ich hier erste eigene Überlegungen vor und freue mich über Nachfragen, Kritik, Kommentare, anknüpfende Erfahrungen:

Zunächst zu den Videokonferenzen (VK):

  • Technische Probleme und Bedienungsfehler in der VK belasten die gesamte Veranstaltung. Es helfen Sicherheit im Umgang mit der Technik, Support im Hintergrund (ggf. durch einzelne TN) und vor allem eingangs formulierte Regeln bzw. technische Hinweise.
  • Es ist schön, wenn sich in der VK alle auch sehen können. Dies ist aber nicht permanent nötig, weshalb Kameras natürlich auch ausgeschaltet werden dürfen.
  • VK wirken schnell ermüdend (“Zoom Fatigue”). Es helfen Spiele, “Eisbrecher” und vor allem Pausen.
  • VK sind anstrengend. Impulse bzw. Instruktionen sollten möglichst kurz gehalten, veranschaulicht und ggf. in Abschnitte aufgeteilt werden (z.B. über zwischengeschaltete Austausch-Phasen).
  • Insbesondere der Austausch in der Gruppe wird ab drei Personen sehr schnell anstrengend. Es helfen neben Redeketten vor allem Schreibgespräche (mit Etherpads oder Chatfunktion), über die sich filtern lässt, was wirklich in in einer Plenumsphase zur Sprache kommen muss.
  • Das bedeutet auch, dass wesentliche Teile des Austausches über Breakout-Räume mit Kleingruppen organisiert werden sollten.
  • Damit VK partizipativ und transparent ablaufen, sollte für die Veranstaltung relevante Materialien allen TN in einer Cloud zur Verfügung stehen, so dass möglichst durchgehend mit Links gearbeitet werden kann.

Gerade der letzte Punkt verweist darauf, dass es nicht reicht, souverän eine Videokonferenz durchführen zu können. Stellen wir uns dem Anspruch, dass der Wechsel von Präsenz in das online-Setting keine wesentlichen Änderungen für unsere Ausbildungsszenarien bedeuten sollte, braucht es eine digitale Infrastruktur für die Zusammenarbeit, die online mit der gleichen Selbstverständlichkeit genutzt werden kann wie in Präsenz. Dabei ist klar, dass nicht alles, was in Präsenz möglich ist, auch online geht (s.o). Und das heißt auch nicht, dass immer und bei allem digital gearbeitet werden muss. Vielmehr hat die digitale Infrastruktur Angebotscharakter und somit entlastende Funktion, wenn sie als Voraussetzung einer bedarfsorientierten und medial zeitgemäß umgesetzten Ermöglichungsdidaktik verstanden wird. Das kann in der konkreten Praxis folgendermaßen aussehen:

  • Auf Pinnwänden (Taskcards) sind alle relevanten Materialien verlinkt, wobei alle TN die Möglichkeit wahrnehmen können, Content zu verlinken.
  • Entsprechend: Präsentationen sind webbasiert (z.B über Abobe Cloud Express) und können somit auch überarbeitet werden (so dass kein “aktuelles PDF” neu versendet werden muss).
  • Weiterhin lassen sich Angebote für Interaktion und Kollaboration verlinken, z.B. Etherpads, Mindmap-Tools oder Präsentations-Tools wie Canva.
  • Kollaborativ zu bearbeitende Dokumente bieten auch die Möglichkeit, bei Bedarf Arbeitsprozesse in Kleingruppen für andere LAK transparent und partizipativ zu gestalten. So können z.B. mehrere Gruppen unabhängig voneinander in einem Dokument kooperativ oder auch kollaborativ arbeiten.
  • Die Möglichkeit, eigene Lernthemen und -räume zu initiieren, bieten den LAK digitale Whiteboards wie ConceptMap oder Miro Board. Auf diesen Boards lassen sich alle genannten Möglichkeiten integrieren, zudem bieten sie einen alternativen Kommunikationsraum, der das Videokonferenztool im online-Setting oder die (digitale) Tafel in Präsenz aus dem Fokus nimmt.
  • Auch der Anspruch, jede Form von Content transparent und für alle kommentierbar anzubieten, lässt sich auf digitalen Whiteboards am besten einlösen.
  • Für Fälle des individuellen und dabei nicht öffentlichen Arbeitens bieten sich die durch Freigaberegeln geschützten Bereiche auf Taskcards-Pinnwänden an.
  • Stets werden Urheber- und Persönlichkeitsrechte gewahrt und ggf. auch thematisiert.
  • Die Arbeit mit digitalen Ausbildungsszenarien wird regelmäßig ausgewertet (z.B. über Edkimo, das als DSGVO-konformes Feedback-Tool den Sts zur Verfügung steht).
  • Und nicht zuletzt: Künstliche Intelligenz wird als tutorielles System genutzt.

Ausführlicher habe ich Möglichkeiten bedarfsorientierter Ausbildung in digitalen Ausbildungsarrangements hier erläutert.

Wem das alles zunächst noch zu viel ist, der bzw. dem seien folgende erste Schritte empfohlen:

  1. eine transparente und partizipativ zu nutzende digitale Infrastruktur auch außerhalb der online-Wochen fest etablieren (z.B. Taskards);
  2. alle Materialien über Links teilen anstatt Material hochzuladen (oder gar zu verschicken);
  3. soviel Kollaboration wie möglich z.B. über Etherpads ermöglichen.

Dies unter den herausfordernden (und hin und wieder auch wirklich fürchterlichen) Bedingungen von BBB umzusetzen, zu reflektieren und weiterzuentwickeln, könnte doch ein guter Grund sein, das Konzept “online-Wochen” auch zukünftig zu unterstützen.

Oder?

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Jan Marenbach
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Written by Jan Marenbach

In der Lehrkräfteausbildung als Ausbildungscoach, Fachausbilder Deutsch LA und Medienberater tätig. Hier formulierte Meinungen sind durchgängig privater Natur.

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